Mit YU Yiming

Allgemein

   Schule MACHT krank


Ein interkulturelles Lesergespräch

mit dem chinesischen Autor

Yu Yiming in Göttingen

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Yu Yiming

Am 27. Juni 2017 hatten Literaturfreunde endlich Gelegenheit, den chinesischen Autor YU Yiming 余一鸣 kennenzulernen. Für Herrn Yu war es ebenfalls ein besonderes Ereignis, da er nicht wie sonst in China mit seinem Publikum ins Gespräch kam, sondern tausend Meilen fern von seiner Heimat in die Galerie Alte Feuerwache der deutschen Stadt Göttingen eingeladen war, zwei seiner Werke vorzustellen. Über hundert Leserinnen und Leser beteiligten sich an diesem interkulturellen Lesergespräch und hörten einer literarischen Stimme aus einer fernen Welt zu.

Stimmungsvolle Klänge der klassischen chinesischen Musik, gespielt auf der Guzheng, einer Wölbbrettzither, führten in die Veranstaltung ein. Herr Yu las zunächst auf Chinesisch aus seinen Kurzgeschichten xuan ze ti 选择题 (dt: Multiple Choice) und xiao yuan bing ren校园病人 (dt: Kranke auf dem Schulgelände bzw. der Schulkranke) vor. Die deutschen Übersetzungen dafür wurden von den Masterstudierenden der Interkulturellen Germanistik angefertigt und präsentiert. Für eine lyrische Überleitung in die Diskussion sorgte eine Studentin mit dem Lied song bie 送别 (en: Farewell Song), das bei jedem Schul- oder Uniabschluss in China erklingt und den Abschiedsschmerz hervorhebt.

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Multiple Choice, Freund der Schülerauswahl und Feind der Literaturästhetik

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Aber selbst dieser traurige Gesang konnte die Flamme der Neugier nicht erlöschen. Die Zuhörer waren sehr gespannt darauf, warum Herr Yu gerade diese Art der Prüfungsaufgabe in seiner zuerst gelesenen Geschichte thematisiert. Der Protagonist, ein Schullehrer Chen Xinmin, erstellt immer irrführendere Multiple-Choice-Aufgaben, die die Schüler kaum beantworten können. Wird Multiple Choice in China tatsächlich so eingesetzt? Oder hat der Autor eine unwahrscheinliche Geschichte gewoben?

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„Leider ist das in China die Realität.“ Aus dreiunddreißigjähriger Lehrerfahrung weiß Herr Yu nur gut, dass sowohl Schüler*innen als auch Studierende häufig mit Multiple Choice konfrontiert sind. Der Auftrag des Prüfungskomitees heißt, auf jede erdenkliche Weise die Schüler in die Falle zu locken. Das Ziel ist nicht die richtige Antwort zu finden, sondern die Ermittlung der Besten. Er kritisierte: „In den Naturwissenschaften kann man entweder A oder B auswählen. Aber diese Logik ist nicht auf Literatur übertragbar. Dies trifft besonders auf chinesische literarische Werke zu, denn ähnlich wie die chinesische Malerei, tendiert die Schreibkultur in China eher dazu intransparent und unscharf zu sein. Durch den Einsatz von Multiple Choice in Prüfungen wird die obskure Ästhetik der Literatur schlechthin zerstört.“

Literatur als Waffe der Kritik 

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Auch die zweite Geschichte erzählt von einer prüfungsorientierte Schuldirektorin, Lin Xiangdong. Der Leser erfährt aus der Perspektive ihres Lehrerkollegen, wie die Schülerin und Lins Tochter Lin Yue unterdrückt wird. Daraufhin bricht die Schülerin mit ihrem Hobby des literarischen Schreibens. Auch diese Geschichte ist nicht nur Fiktion.   

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Will Herr Yu durch seine Werke die gesellschaftliche Natur ans Licht bringen? Auf diese Frage ist die Antwort „Ja“. Seit dem Bachelorabschluss hat Herr Yu in verschiedenen Schulen auf dem Land und in der Stadt unterrichtet. Was ihn ununterbrochen beunruhigt, sind Missstände im chinesischen Bildungssystems: Das leistungsorientierte Bildungswesen raubt den Jugendlichen ihre Kreativität und schädigt die Gesundheit. Als Lehrer und Vater erwartet er Reformen  im chinesischen Bildungssystem. Die Literatur ist seine Waffe, um Bildungsreformen einzufordern.

Der lange Weg vor unsDSC_3335-68

„Zu meiner Zeit lag die Hochschulaufnahmequote in China nur bei drei Prozent. Vierzig Jahre nach Einführung der Reform- und Öffnungspolitik im Jahr 1978 können derzeit sechzig Prozent der Prüfungskandidaten in die Universität gehen. In Deutschland dagegen können fast alle Schüler nach dem Abitur studieren.“ äußerte Herr Yu. „In China gibt es einfach zu wenig Hochschulen für viel zu viele Schüler. Aus diesem Grund muss grausam ausgesiebt werden und das mittels der Gao Kao, der chinesischen Hochschulaufnahmeprüfung, und ihrer sonderbaren Multiple-Choice-Aufgaben.“

Bereits seit 2000 werden die Missstände im Bildungswesens von der chinesischen Gesellschaft immer wieder angeprangert. Dennoch bleibt die Situation ambivalent. Einerseits fördert die Regierung die qualitativ hochwertige Bildung, also eine Bildung und Erziehung, die auf einen höheren Bildungsstandard mit Kreativität abzielt. Die Schüler wurden nämlich animiert, eigene Interessen zu entwickeln, statt stetig für die Prüfungsfächer zu pauken. Daher gab es eine Zeit, wo Unterrichtsfächer wie Musik, Sport und Kunst mit Mathematik, Englisch und Chinesisch gleichgesetzt wurden. Auch die Nachhilfestunde wurde verboten, um den Schülern mehr Freizeit einzuräumen. Meist sind es jedoch die Eltern, die die Leistungen von Schulen und Schülern einfordern, die eine entscheidende Rolle für die Versetzung in die Oberstufe spielen. Auf diese Weise wird einer Schule, die Wert auf qualitativ hochwertige Bildung legt, vorgeworfen, dass sie das Ziel der Qualifikation für Oberstufe und Universität verfehle. Die Eltern drängen die Schullehrer förmlich dazu, Nachhilfestunde zu geben.

Ein weiterer Grund liegt darin, dass ein administratives System in den Schulen durchgeführt wird, das die Förderung qualitativ hochwertiger Bildung behindert. Unter diesem System werden Rektor, Fachleiter und Lehrer ähnlich wie Beamten finanziell begünstigt und hierarchisch verwaltet. Der Schulrektor kümmert sich ebenfalls nur darum, dass die Schüler gute Noten bekommen. Denn ob ihm Vergünstigungen zuteilwerden, hängt ganz von der Schulabschlussquote ab. So werden die untergeordneten Fachleiter und Lehrer praktisch aufgefordert, sich ausschließlich an guten Leistungen zu orientieren. Ansonsten können ihnen Vergünstigungen und Gehalt abgezogen werden.

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„Ich habe eben dieses Dilemma in meiner Geschichte Multiple Choice mit einem Volksgedicht umschrieben: ¸Qualitativ hochwertige Bildung gleicht Krawatte und Anzug, die man vor den Anderen ordentlich tragen werden muss; die prüfungsorientierte Bildung erinnert an die enganliegende Unterhose, die sich Tag und Nacht versteckt an den Körper schmiegt.’“ So betonte Herr Yu: „Man findet bisher keine Lösung, die sowohl die Schule und Bildungsbehörde als auch die Eltern und Kinder zufriedenstellt. Die Bildungsreform ist kein einseitiger Auftrag. Wir haben noch einen langen Weg zu gehen.“

Aber Herr Yu sieht bereits Hoffnung, nicht nur weil in Zukunft Professoren die Schulen in China verwalten werden. Vielmehr liegt der Grund darin, dass man sich mit dem chinesischen Bildungssystem auch im Ausland auseinandersetzt, indem seine Geschichten ins Deutsche übersetzt und interkulturell besprochen werden können.

Yuke Wan

Der Text hat das Wort: Yu Yiming und die Wehrhaftigkeit der Texte

1) Es rede der Text…

Der Leseabend mit Herrn Yu Yiming begann mit der Frage: Was geschieht, wenn der Text das Wort erhält? Wenn es die Schrift ist, die sich zu Wort meldet und als eigenwilliger Text zum Sprechen gebracht wird? Die Wehrhaftigkeit des Textes, so Herr Prof. Mitschian, stellvertretender Leiter der Abteilung Interkulturelle Germanistik, bestehe darin, eine Pluralität an Interpretationen auf den Plan zu rufen, die Widerständigkeit des Textes wahrzunehmen und das Eigenleben des Textes sichtbar zu machen. Schrift, so Herr Mitschian, war schon seit der Antike Grund von Auseinandersetzungen: während die schriftfeindliche Auffassung von Sokrates in die Überzeugung mündete, Text könne sich nicht zur Wehr setzen und spreche monologisch immer dieselbe Bedeutung aus, hielt Platon dagegen: der Text sei wehrhaft und müsse sich zur Wehr setzen…!

2) Der Text hat das Wort

Die Texte des Autors Yu Yiming traten in zwei verschiedenen Versionen zu Tage: jeweils zwei unterschiedliche Übersetzungen (mit verschiedenen Strategien) führten zu einer Polyphonie des Textes, da sie verschiedene Aufführungen und Varianten zum Sprechen brachten. Das Sprechen selbst erwies sich als Aufführungspraxis. Indem der Text verschiedene Versionen verwirklicht, wehrt er sich gegen eine Monologisierung: nicht die eine Bedeutung steht im Vordergrund, sondern eine Vielfalt an Bedeutungen, die der Text unter anderem über die verschiedenen Übersetzungen generiert. Monologisch bedeutet im Sokratischen Sinne, dass der Text sich immer auf dieselbe Weise zu erkennen gibt, er festgelegt ist auf eine Stimme und über diese determiniert wird. Es ist also nicht vordergründig das „Erkenne dich selbst“ des Antiken Griechenlands, sondern die Selbstreflexivität des Textes und wie wir seine Bedeutung erkennen, wie sich uns der Text erschließt. Wann ist der Text wehrhaft? Genau dann, wenn er sich über eine Pluralität von Bedeutungen zu erkennen gibt. Wenn das unausgefüllte Potential des Textes zum Tragen kommt und wir als Leser die Leerstellen des Textes ausfüllen, indem wir unsere Phantasie benutzen, um den Text in seiner Bedeutungsfülle zu befreien. Der Text wehrt sich gegen die eine, einzige Lesart. Yu Yiming sprach von der Ambivalenz des Textes. In seinen Worten: die Literatur zeichne sich durch eine Ästhetik der Ungleichheit und Ambivalenz aus.

3) Das Scheitern der Wahl

Wenn Multiple Choice-Fragen das Leben ersetzen bzw. das Leben über Multiple Choice-Fragen falsch konzeptualisiert wird, so dass es zur Ironie wird, dass Bildungsträger und -figuren im Text an ihrem Konzept scheitern, dann, so muss eine Schlussfolgerung lauten, bereitet die Schule nicht auf die Fragen des Lebens vor. Stattdessen, so der Text, ist das Leben einfacher als die gestellten Fallen der spitzfindigen Lehrer. Der Text zeigt, wie weit sich Leben und Bildung voneinander entfernen können, indem er in einer ironischen Wendung einen erfahrenen und renommierten Lehrer in eine Falle gehen lässt, die er sich selbst als Aufgabe gestellt hat, und ihn schlussendlich das Leben kostet. Der Lehrer scheitert an seiner eigenen Aufgabe, weil das Leben andere Ansprüche stellt, da unsere Konzeptualisierungen Heuristiken sind, die oft an der Sache vorbeigehen, weil auch Bildung sich gewisser Raster bedient, die eine Falle zwischen Realität und Schule, zwischen Realität und Praxis stellen. Es kann eben keine Anleitung zum Leben geben…

4) Der Verlust der Phantasie

Auch Direktorin Lin („Die Kranke auf dem Schulhof/ Schulkranke“) scheitert am eigenen Bildungskonzept. Über die Karikatur der Direktorin gelingt dem Autor, einen Teilausschnitt des chinesischen Bildungssystems auf den Punkt zu bringen. Neben der ideologischen Bildung beklagt der Autor anhand der jungen Lin Yue den Verlust der Phantasie, der aus einer Krise des jungen Mädchens resultiert. Anhand dieser liebevoll gezeichneten Figur erscheint das Bildungssystem als Mechanismus, der keinen Platz für Phantasie und Vorstellung lässt. Diese sind es jedoch, die eine Person erst zum Menschen und analog einen Text erst zum Text werden lassen; Texte sind auf unsere Vorstellungen und auf unsere Phantasie angewiesen, um die Lücken des Textes zu schließen…

5) Ironie des Lebens?

Abschließend erscheint die Ironie der Texte als Möglichkeit die Ambivalenz, die Ästhetik der Ungleichheit (wie sie Yu Yiming für Literatur ansetzt) zum Sprechen zu bringen. Beide Texte enden mit einer leisen Ironie. Der Abend bot zahlreiche Möglichkeiten, diese zu entdecken…

Ingrid Ospald

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